Umfrage zur Verbreitung von "tschö" als Abschiedsgruß
Das Gebiet, in dem nach Auskunft der Gewährspersonen heute die Verabschiedung mit "tschö" üblich ist, deckt sich weitgehend mit dem mittelfränkischen und niederfränkischen Dialektraum, also dem Raum, der landläufig als "Rheinland" bezeichnet wird. Dank der fast durchweg kooperativen Reaktionen auf die e-Mail-Anfrage - allen Beteiligten sei herzlich gedankt! - konnte eine recht feinkörnige Karte zur Verbreitung von "tschö" erstellt werden, aus der dies hervorgeht:
Die Konkurrenzform im gesamten Gebiet ist vor allem tschüss, das auch überall im blau dominierten Teil der Karte - neben "tschö" - geläufig ist. Von Jüngeren wird außerdem häufig auch "ciao" verwendet.
Gerade im besonders modeabhängigen Bereich der Abschiedsfloskeln müßten natürlich sehr viel differenzierte Studien angestellt werden, um für verschiedene Altersstufen, soziale Gruppen und Netzwerke das jeweils spezifische Grußverhalten im einzelnen zu entschlüsseln. So erklären sich auch widersprüchliche Angaben verschiedener Informanten durch eine fehlende Differenzierung der Anfrage - in solchen Fällen wurde bei der Kartierung nach Mehrheit entschieden bzw. "üblich" und "nicht üblich" zu "auch üblich" zusammengefasst. Das Kartenbild zeigt jedoch insgesamt, dass die Frage nach dem groben Verbreitungsgebiet auch ohne eine differenziertere Untersuchung klar beantwortet werden kann. Aus Zusatzangaben einiger Informanten und aus den Antworten jüngerer Befragter wurde darüberhinaus z.T. eine interessante Dynamik deutlich: Offenbar tendiert die Jugend im Kernbereich des "tschö"-Areals eher zur Aufgabe dieses Grußes (assoziiert mit älteren, traditionsverbundenen Personen), während an den Rändern, vor allem im Norden und Osten, anscheinend eher eine von den Jüngeren getragene Expansion zu beobachten ist.
Die Assoziation "rheinisch", die viele der Befragten spontan mit "tschö" verbinden, ist hier also auf die ganze ehemalige Rheinprovinz (mit Ausnahme des saarländischen Teils und des nördlichen Kleverlands) zu beziehen, eine Einheit, die politisch nur in der Zeit von 1822 bis zum Ende des zweiten Weltkriegs bestand, aber Spuren in der Raumvorstellung der Menschen ("mental map") hinterlassen hat. Damit dürfte auch zu erklären sein, dass der Gruß, der laut Rheinischem Wörterbuch ursprünglich nur in ripuarischen Städten anzutreffen war, im niederfränkischen und moselfränkischen Raum übernommen wurde, aber nicht weiter vorgedrungen ist. Die Ausprägung dieses recht geschlossenen rheinischen "tschö"-Gebiets scheint jedoch erst zu einer Zeit stattgefunden haben, in der die politische Einheit schon nicht mehr bestand (oder zumindest dem Ende zuging): Nach den Fragebögen des Rheinischen Wörterbuchs von 1917 bzw. des Atlas zur deutschen Volkskunde von 1930 war der Sprachgebrauch in der (damals existierenden) Rheinprovinz zweigeteilt (s. Karte nach RhWb-Erhebung), gemäß dem alten, in vielen Sprach- und Brauchtumskarten anzutreffenden Muster einer Nord-Süd-Teilung im Bereich der Ahr.
Hier grenzten die historischen Einflußbereiche der geistlichen Territorien von Köln und Trier aneinander, und heute verläuft hier wieder die Landesgrenze. In der geographischen Vorstellung des Mittelalters trafen hier aber größere Raumeinheiten zusammen: nördlich das "Niederland" (sprachlich der niederdeutsch-niederländische Raum), südlich das "Oberland". Die Eingliederung des rheinischen Gebietes bis zur Ahr in einen größeren norddeutschen Zusammenhangs findet sich offenbar entsprechend auch noch im Abschiedsgruß in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Die Form adjüs, atschüss (tschüss) mit -s, die in der Karte im Nordteil des Rheinlands verzeichnet ist, war / ist im gesamten niederdeutschen Raum verbreitet; nach der geläufigsten Herleitung geht sie darauf zurück, dass in der Seemannssprache das spanische adios übernommen wurde. Im "oberländischen" Teil des Rheinlands galt dagegen um 1917 / 1930 vorwiegend "adje", "adsche", also eine an die Mundarten angepaßte Form des französischen "adieu". Ob die Form "tschö" hiermit zusammenhängt oder sich (vielleicht wahrscheinlicher) unabhängig davon aus adieu entwickelt hat, wäre genauer zu klären, festzuhalten bleibt, dass "tschö" als "gesamtrheinisches" Kennzeichen offenbar eine relativ junge Erscheinung ist, deren (derzeitiges) Geltungsgebiet der von der Rheinprovinz geprägten Vorstellung des "Rheinlands" zu entsprechen scheint.