- Bereich 3: Sozialer Gehalt der Form, Formen des Sozialen
-
Die erwähnte Überschreitung von im engeren Sinne ästhetischen Formbegriffen auf Prozesse kultureller Semiose beruht auf der Einsicht, dass kulturelle Genese immer die Hervorbringung ›geformter Welt‹ ist. Anders als in den Formbeschreibungen, wie sie etwa in den 1950er und 60er Jahren aus dem Geist einer Formimmanenz des Ästhetischen versucht und – wie etwa in der Schule Günther Müllers – in morphologisch-organologischen Begriffstraditionen verankert wurden, können Ästhetisches und Soziales heute nicht mehr als getrennte Phänomene betrachtet werden. Diese Einsicht bewegt bereits die sogenannten ›ersten Kulturwissenschaften‹ (wie die Georg Simmels oder Ernst Cassirers). Dort wurde bereits deutlich, dass der Begriff der Form die Besinnung auf ästhetische Sachverhalte ebenso anleitet wie das Verständnis der Genese sozialer Ordnungen, Vergesellschaftungsformen und Institutionen. Dabei ermöglicht das Zusammenspiel von ästhetischen und sozialen Implikationen der Form eine doppelte Fragerichtung. Zu fragen ist zum einen, welcher soziale ›Gehalt‹ in ästhetischen Formen artikuliert wird – etwa dort, wo fiktionale und experimentelle Szenarien im Sinne der Nicht-Vorhersagbarkeit sozialer Ereignisse gefasst oder ästhetische Probleme der Komplexitätsreduktion als welthaltige Formen sozialer Komplexitätsverarbeitung im Ganzen gedacht werden. Auch literarisch-kulturelle Institutionen wie etwa Museen sind dadurch, dass sie im Kontext zeichen-, symbol- und ritualtheoretischen Prämissen geradezu ›formalistisch‹ beschrieben werden können, als kulturelle Form der Dinge, als Ort und Produkt ihrer Anordnung, reformulierbar.
In Gegenrichtung wäre nach den ästhetischen, formalen und imaginären Prämissen des Sozialen zu fragen. Weite Teile der mittelalterlichen ›Literatur‹ sind der rituellen Profilierung und geradezu theatralen ›Vorführung‹ sozialer Verhaltensweisen gewidmet, deren Artifizialität ebenso formgeneriert ist wie sie sozialkonstitutive Bedeutung hat; Formen sind hier – bis weit in die frühe Neuzeit hinein – nichts, was von den Konstitutionsprozessen des Sozialen abgetrennt wäre, sondern eminente Voraussetzungen für soziale Ordnungen und ihre Inklusionslogiken. Nicht zuletzt ist der Inbegriff des modernen Sozialen – die Institution – genetisch gesehen aus Implikationen der Formgebung und der ästhetischen Form geboren. Formen sind Institutionen aber auch, weil sie Grenzen, Zäsuren, Unterbrechungen in die Dynamik sozialer Verhandlungen und Konflikte eintragen und damit Agenturen bilden, die soziales Geschehen in einem abstrakten Sinne unterbinden, stillstellen, unterbrechen, aber auch moderieren bzw. Übergänge von einem zum anderen herstellen.