Grenzen (in) der Wissenschaft
Prof. Dr. Rainer Kolk
Gegenstand des Arbeitsvorhabens ist die Geschichte der Kulturwissenschaften seit 1800, besonders der Deutschen Philologie.
Ausgangspunkt ist die Konstitutionsphase des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen am Beginn des 19.Jahrhunderts. Disziplinen als Kommunikationsgemeinschaften von Spezialisten um abgrenzbare Problemstellungen herum formieren sich durch Ausdifferenzierung aus als nichtwissenschaftlich disqualifizierten Umwelten (Religion, Kunst usw.). Ihr Wissen wird als Alltagswissen marginalisiert, von dem als wissenschaftlich klassifiziertes Wissen unterschieden ist: durch fachsprachliche Formulierung, Einbindung in methodologische Relevanzen usw. Markiert werden Grenzen bspw.
- zur Amateurwissenschaft der Liebhaber, Sammler, Autodidakten usw.; dies besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Stabilisierung der Deutschen Philologie vollzieht sich als Abweisung patriotischer, künstlerischer, popularisierender usw. Motive wissenschaftlichen Handelns. Die Institution der Forschungsuniversität wird das Zentrum der organisatorischen Infrastruktur (Verstetigung wissenschaftlicher Handlungsmöglichkeiten und Motivationen in Laufbahnstrukturen; Nachwuchsrekrutierung in Fachstudiengängen mit Seminarausbildung usw.). Die Form des Wissens jedoch ist disziplinärer Kommunikation geschuldet;
- zu außerwissenschaftlichen Leistungserwartungen (der nichtwissenschaftlichen „Öffentlichkeit“): Mitte des 19. Jahrhunderts durch Differenzierung von Textsorten/Leistungsrollen (Grundlagenorientierung: Edition; Leistungsbezug: Literaturgeschichte/Kommentar usw.); Stichwort um 1900: „Leben“, künstlerische Relevanzen usw., als deren Protagonist der „Intellektuelle“ (als Sprecher für ein ‚Allgemeines’) gesehen werden kann (genuine Textsorte: Essay).
Verbunden sind solche Grenzziehungen mit der Ausbildung einer entsprechenden Reputationshierarchie (als „Zweitcodierung“ von wissenschaftlicher Wahrheit) mit entsprechenden institutionellen Effekten in der organisatorischen Infrastruktur der Disziplinen (Besetzung von Lehrstühlen, Zuweisung von Ressourcen usw.). Darüber hinaus etabliert sich eine professionelle Ethik der Wahrhaftigkeit, Rücknahme persönlicher Ansprüche, Sachlichkeit, altruistischen Wahrheitssuche. Zu untersuchen wäre, ob diese sozialen Grenzziehungen in den Kulturwissenschaften Wahrheitskriterien nicht zumindest zweitcodieren, ähnlich der Reputation. Soziale Kriterien (Schülerschaft, Publikationsorte, Beschäftigung mit akzeptierten Gegenständen und Schreibweisen) ersetzen partiell wahr/falsch-Entscheidungen. Nicht nur eine Historisierung von Objektivitätskriterien (vgl. L. Daston für die Naturwissenschaften), sondern auch eine soziale Indizierung wissenschaftlicher Ergebnisse lässt sich beobachten.
Mit dem Größenwachstum von Disziplinen im späten 19. und frühen 20.Jahrhundert verstärkt sich die Tendenz zur Binnendifferenzierung, die den Raum für explizite Theoriebildung öffnet („Methodenpluralismus“ in der Literaturwissenschaft; Geschichtsforschung/ -darstellung in der Geschichtswissenschaft; ebd. Lamprecht-Debatte und „Fall Spahn“; Werturteilsstreit in den Sozialwissenschaften). Gleichzeitig zeigt sich eine Reaktivierung von Reflexionstheorien („Bildung“), nicht selten allerdings kontaminiert durch außerwissenschaftliche/Wissenschaft übergreifende Leistungserwartungen („Bindung“, Orientierungswissen), die wiederum theoriefähig werden: in transdisziplinären Programmen („Deutsche Bildung“, Völkische Wissenschaft, Gestaltdeutung), die auf Entdifferenzierung zielen: ‚Entgrenzung’, und zwar
- innerhalb der Disziplinen (Aufhebung disziplinärer Binnenkomplexität)
- innerhalb des Systems der (Kultur-)Wissenschaften (Aufhebung von Disziplinarität)
- als Aufhebung der Differenz Wissenschaft/Gesellschaft.